NZZ  2014-11-15  Seite 2

 

AUFGEFALLEN


Patriarch Kyrill hat ein Problem

 

Daniel Wechlin, Moskau Schenkt man den Staatsmedien Glauben, kann es einem derzeit in Russland richtig angst und bange werden. Im Inland droht die Zersetzung durch subversive Staatsfeinde, im Ausland lauern allerlei Faschisten und der von Washington gesteuerte Westen. Gut, dass es bei so viel Ungemach noch die russisch-orthodoxe Kirche gibt. Ihr Oberhaupt Patriarch Kyrill verteidigt eisern die Werte der russischen Welt, beschwört die Einheit aller Russen und inszeniert sich als moralisches Bollwerk.

Das sehen jedoch nicht alle so: Kyrill fehlt es offenbar an moralischer Autorität. Dies behauptet zumindest das Meinungsforschungsinstitut FOM. In einer landesweiten Umfrage erhielt nicht das Kirchenoberhaupt am meisten Anerkennung als moralische Autorität, sondern Präsident Putin. Dieser wurde von 36 Prozent der Befragten genannt, vor Aussenminister Lawrow und Verteidigungsminister Schoigu mit 6 beziehungsweise fünf 5 Prozent. Sogar der nationalistische Polterer Schirinowski rangiert vor dem Patriarchen, der nur auf 1 Prozent kam. Kommentatoren meinen allerdings, dass das russische Volk gar nicht wisse, was Moral sei. Moral sei mit Loyalität verwechselt worden. Die Zeitung «Nesawisimaja Gaseta» versteht das Ergebnis aber auch als Mahnung für Kyrill, dass seine Selbstdarstellung wohl nicht so genau mit der Wahrnehmung in der Bevölkerung übereinstimmt.

Daran ist womöglich der 67-jährige Patriarch nicht ganz unschuldig. Ihm wurden einst KGB-Verbindungen nachgesagt, und in den neunziger Jahre machte er als «Tabak-Metropolit» Schlagzeilen, als die Kirche zollfrei Zigaretten importierte und damit Milliarden scheffelte. Vor zwei Jahren liess er auf einem offiziellen Foto eine Schweizer Luxusuhr wegretuschieren. Die Grafiker arbeiteten aber schlampig. Der exklusive Zeitmesser spiegelte sich noch in der glatten Tischoberfläche. Und erst kürzlich verlieh Kyrill dem Kommunistenführer Sjuganow den kirchlichen Orden «Ruhm und Ehre». Sjuganow erweist Stalin bis heute seine Reverenz und legt jeweils zum Todestag des Sowjetdiktators eine rote Rose auf dessen Grab.