Was ist Philosophie?


Bertrand Russell beschreibt in der Einführung seines Buches Denker des Abendlandes, womit Philosophen sich beschäftigen und erklärt zugleich, was Philosophie nicht ist.


Denker des Abendlandes

Eine Geschichte der Philosophie


Genehmigte Lizenzausgabe für

Nikol Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG.,

Hamburg 2012


© 1959 Rathbone Books , London

Titel der englischen Originalausgabe:

Wisdom of the West


© der deutschsprachigen Ausgabe:

1976 Chr. Belser AG, Stuttgart



Einführung


Was machen die Philosophen, wenn sie arbeiten? Eine seltsame Frage! Zuerst versuchen wir, durch die Gegenfrage, nämlich: was sie nicht tun, eine Antwort zu finden. Es gibt viele Dinge in der Welt um uns herum, die sich gut verstehen lassen. Nehmen wir zum Beispiel die Arbeit einer Dampfmaschine. Das gehört in den Bereich der Mechanik und der Thermodynamik. Ferner wissen wir eine ganze Menge über den Aufbau und die Funktion des menschlichen Körpers. Das wird von der Anatomie und der Physiologie erforscht. Oder die Bewegungen der Himmelskörper, die den Gegenstand der Astronomie darstellen. Diese genau bestimmten Erkenntnisse gehören den exakten Wissenschaften an.

Aber all diese uns umgebenden Erkenntnissgebiete grenzen doch an das Unbekannte. Und wenn jemand in diese Grenzbereiche oder dahinter eindringt, gelangt er von der exakten Wissenschaft in die Sphäre des Spekulativen. Diese spekulative Tätigkeit, diese Art „Forschung“, nennen wir Philosophie. Wie wir später sehen werden, begannen die verschiedenen exakten Wissenschaften mit der in diesem Sinne verstandenen philosophischen Forschung. Wenn aber eine Wissenschaft fest gegründet ist, verfährt sie, außer bei Grenzproblemen und Fragen der Methode, mehr oder weniger unabhängig und automatisch, das heißt, der exakte Forschungsprozeß findet ein neues Aufgabenfeld.

Gleichzeitig müssen wir aber die Philosophie auch von anderen spekulativen Überlegungen unterscheiden. Die Philosophie an sich bedeutet nämlich weder die Lösung unserer Schwierigkeiten noch die Rettung unserer Seelen, sondern – wie die Griechen sie auffassen – eine Art abenteuerliche Unternehmung. So ist sie im Prinzip keine Angelegenheit von Dogmen, Riten oder geheiligten Wesenheiten gleich welcher Art, wenn auch manche Philosophen hartnäckig dogmatisch denken. Es gibt nämlich zwei Betrachtungsmöglichkeiten bezüglich des Unbekannten. Die eine ist, Menschen zuzustimmen, die behaupten, sie seien auf Grund von bestimmten Büchern, Mysterien oder anderen Quellen der Inspiration im Besitz des Wissens. Die andere ist, selbst nachzuforschen. Diesen Weg geht die exakte Wissenschaft und auch die Philosophie.

Schließlich läßt sich eine Besonderheit der Philosophie feststellen. Wenn jemand nämlich fragt, was die Mathematik ist, so können wir ihm eine ganz bestimmte Definition, zum Beispiel „die Wissenschaft von den Zahlen“, geben. Solche Definitionen lassen sich für alle Gebiete aufstellen, auf welchen exakte Erkenntnisse vorliegen. Die Philosophie aber kann nicht so bestimmt werden. Alle ihre Definitionsversuche sind strittig und vertreten schon im voraus einen besonderen philosophischen Standpunkt. Der einzige Weg herauszufinden, was Philosophie ist, ist zu philosophieren. Aufzuzeigen, wie einzelne das seither taten, ist das Hauptziel dieses Buches.

Es gibt viele Probleme, mit denen sich denkende Leute befassen und Fragen stellen, auf die keine exakte Wissenschaft eine Antwort parat hat. Auch sind die, die versuchen, selbständig zu denken, nicht gewillt, den fertigen Antworten von „Wahrheitsverkündigern“ zu vertrauen. Es ist die Aufgabe der Philosophie, diesen Problemen nachzuforschen und sie nach Möglichkeit zu lösen.

So können wir zum Beispiel fragen, was der Sinn des Lebens sei, falls es überhaupt einen gibt. Oder: Hat die Welt einen Zweck; führt der Gang der Geschichte irgendwohin; oder sind dies lauter sinnlose Fragen?

Ferner, ob die Natur von Gesetzen regiert werde, oder ob wir das bloß denken, weil wir die Dinge nun einmal gern in einer gewissen Ordnung betrachten? Und die allgemeine Frage: Ist die Welt in zwei verschiedene Teile, Geist und Materie, getrennt, und wenn ja, wie hängen sie zusammen?

Was können wir überhaupt über den Menschen sagen? Ist er nur ein krabbelndes Staubkörnchen auf einem kleinen, unwichtigen Planeten? Oder ist er, wie Chemiker vielleicht meinen, nur ein Haufen von chemischen Elementen, zusammengesetzt auf mancherlei geschickte Weise? Oder ist der Mensch letzten Endes – wie er Hamlet erschien – von edler Vernunft und unendlichen Fähigkeiten? Oder ist er alles zusammen?

In Verbindung damit erheben sich ethische Fragen über Gut und Böse. Gibt es eine Lebensweise, die gut, und eine andere, die schlecht ist, oder aber ist es gleichgültig, wie wir leben? Wenn es eine gute gibt, worin besteht sie, und wie können wir erlernen, danach zu leben? Gibt es das, was wir Weisheit nennen, oder ist, was so scheint, nur leere Narrheit?

All das sind verwirrende Fragen, die sich durch kein Experiment im Laboratorium beantworten lassen. Und die geistig Unabhängigen sind nicht gewillt, Schlußfolgerungen marktschreierischer letzter Weisheiten ohne weiteres hinzunehmen. Solchen Menschen zeigt die Geschichte der Philosophie, welche Antworten überhaupt auf die großen Fragen gegeben werden können. Durch das Studium dieses schwierigen Stoffes lernen wir, wie andere zu anderen Zeiten darüber gedacht haben. Wir gelangen zu einem besseren Verständnis dieser Menschen, deren Art zu philosophieren ein wichtiges Zeugnis ihrer Lebensführung ablegt. Schließlich kann dies uns vielleicht zeigen, wie wir bestehen können, wenn wir auch nur weniges wissen.



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