Zur Bedeutung der Philosophie für die
mathematisch-physikalischen Wissenschaften


Die beiden folgenden Auszüge – der eine von dem Physiker Albert Einstein, der andere von dem Mathematiker Richard Courant – verdeutlichen, welche Bedeutung Philosophie für Physik und Mathematik hat, also den wichtigsten grundlegenden Wissenschaften überhaupt.


I


„Begriffe und Begriffssysteme erhalten die Berechtigung nur dadurch, daß sie zum überschauen von Erlebniskomplexen dienen; eine andere Legitimation gibt es für sie nicht. Es ist deshalb nach meiner Überzeugung eine der verderblichsten Taten der Philosophen, daß sie gewisse begriffliche Grundlagen der Naturwissenschaft aus dem der Kontrolle zugänglichen Gebiete des Empirisch-Zweckmäßigen in die unangreifbare Höhe des Denknotwendigen (Apriorischen) versetzt haben. Denn wenn es auch ausgemacht ist, daß die Begriffe nicht aus den Erlebnissen durch Logik (oder sonstwie) abgeleitet werden können, sondern in gewissem Sinn freie Schöpfungen des menschlichen Geistes sind, so sind sie doch ebensowenig unabhängig von der Art der Erlebnisse, wie etwa die Kleider von der Gestalt der menschlichen Leiber. Dies gilt im besonderen auch von unseren Begriffen über Zeit und Raum, welche die Physiker – von Tatsachen gezwungen – aus dem Olymp des Apriori herunterholen mußten, um sie reparieren und wieder in einen brauchbaren Zustand setzen zu können.“


Aus: „Grundzüge der Relativitätstheorie“, Albert Einstein, 1922, 1954, aus der Einleitung „Raum und Zeit in der vorrelativistischen Physik“, vierter Absatz.


II


„Was für eine Art von Dingen eigentlich die Zahlen sind, das ist eine Frage, die mehr den Philosophen als den Mathematiker angeht und mit der sich auch die Philosophen viel beschäftigt haben. Die Mathematik muß jedoch darauf bedacht sein, sich von dem Einfluß widerstreitender philosophischer Meinungen frei zu halten; sie braucht glücklicherweise keine erkenntnistheoretischen Vorstudien über das tiefere Wesen des Zahlbegriffs. So wollen wir die Zahlen, und zwar zunächst die ganzen positiven oder natürlichen Zahlen 1, 2, 3, … als etwas Gegebenes hinnehmen; ebenfalls wollen wir die Regeln, nach denen man mit diesen Zahlen rechnen kann, als etwas Gegebenes betrachten und uns nur noch einmal kurz in Erinnerung zurückrufen, in welcher Weise man den Begriff der ganzen positiven Zahlen oder der natürlichen Zahlen notgedrungen hat erweitern müssen.“


Aus: „Vorlesungen über Differential- und Integralrechnung“ von Richard Courant, erster Band, zweite Auflage, Springer, 1930, 1971, Seite 3, § 1. Der Zahlbegriff, erster Absatz.


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