Naturerkennen und Logik.
[David Hilbert, Naturwissenschaften (1930-11-28), S. 959-963.]
Die Erkenntnis von Natur und Leben ist unsere vornehmste Aufgabe. Alles menschliche Streben und Wollen mündet dahin, und immer steigender Erfolg ist uns dabei zuteil geworden. Wir haben in den letzten Jahrzehnten über die Natur reichere und tiefere Erkenntnis gewonnen als früher in ebenso vielen Jahrhunderten. Wir wollen heute diese günstige Lage benutzen, um unserem Thema entsprechend ein altes philosophisches Problem zu behandeln, nämlich die vielumstrittene Frage nach dem Anteil, den das Denken einerseits und die Erfahrung andererseits an unserer Erkenntnis haben. Diese alte Frage ist berechtigt, denn sie beantworten, heißt im Grunde feststellen, welcherart unsere naturwissenschaftliche Erkenntnis überhaupt ist und in welchem Sinne all das Wissen, das wir in dem naturwissenschaftlichen Betriebe sammeln, Wahrheit ist.
Ohne Vermessenheit gegenüber den alten Philosophen und Forschern können wir heute auf eine richtige Lösung dieser Frage sicherer rechnen als jene – aus zwei Gründen: der erste ist das schon erwähnte rasche Tempo, in dem sich unsere Wissenschaften heute entwickeln.
Die bedeutsamen Entdeckungen der älteren Zeit, von Copernicus, Kepler, Galilei, Newton bis Maxwell verteilen sich in größeren Abständen auf fast vier Jahrhunderte. Die neuere Zeit beginnt mit der Entdeckung der Hertzschen Wellen. Nun folgt Schlag auf Schlag: Röntgen entdeckt seine Strahlen, Curie die Radioaktivität, Planck stellt die Quantentheorie auf. Und in neuester Zeit überstürzen sich die Entdeckungen neuer Erscheinungen und überraschender Zusammenhänge, so daß die Fülle der Gesichter fast beunruhigend wirkt: Rutherfords Theorie der Radioaktivität, Einsteins hν-Gesetz, Bohrs Erklärung der Spektren, Moseleys Numerierung der Elemente, Einsteins Relativitätstheorie, Rutherfords Zerfällung des Stickstoffs, Bohrs Aufbau der Elemente, Astons Isotopentheorie.
So erlebten wir allein in der Physik eine ununterbrochene Reihe von Entdeckungen, und was für Entdeckungen! An Gewaltigkeit steht keine einzige derselben den Errungenschaften der älteren Zeit nach, und überdies sind sie zeitlich enger zusammengedrängt und doch innerlich ebenso vielgestaltig wie jene. Und darin zeigen sich beständig Theorie und Praxis, Denken und Erfahrung aufs innigste verschlungen. Bald eilt die Theorie, bald das Experiment voraus, immer sich gegenseitig bestätigend, ergänzend und anregend. ähnliches gilt von der Chemie, der Astronomie und den biologischen Disziplinen.
Wir haben also den älteren Philosophen gegenüber den Vorteil, eine große Anzahl solcher Entdeckungen miterlebt und die dadurch bewirkten Neueinstellungen während ihrer Entstehung kennengelernt zu haben. Dabei waren unter den Neuentdeckungen viele solche, die alte, festgewurzelte Auffassungen und Vorstellungen abänderten oder ganz beseitigten. Denken wir beispielsweise nur an den neuen Zeitbegriff der Relativitätstheorie oder an die Zerfällung der chemischen Elemente und wie dadurch Vorurteile beseitigt worden sind, an denen zu rühren früher überhaupt niemand eingefallen wäre.
Aber noch ein zweiter Umstand kommt heute der Lösung jenes alten philosophischen Problems zugute. Nicht bloß die Technik des Experimentierens und die Kunst, theoretisch-physikalische Gebäude zu errichten, ist heute auf einer nie bisher erreichten Höhe angelangt, sondern auch das Gegenstück, nämlich die logische Wissenschaft, ist wesentlich fortgeschritten. Es gibt heute eine allgemeine Methode für die theoretische Behandlung naturwissenschaftlicher Fragen, die auf alle Fälle die Präzisierung der Problemstellung erleichtert und die Lösung des Problems vorbereiten hilft, nämlich die axiomatische Methode.
Was für eine Bewandtnis hat es nun mit dieser heute so vielgenannten Axiomatik? Nun, die Grundidee beruht auf der Tatsache, daß meist auch in umfassenden Wissensgebieten wenige Sätze – Axiome genannt – ausreichen, um dann rein logisch das ganze Gebäude der Theorie aufzubauen. Aber mit dieser Bemerkung ist ihre Bedeutung nicht erschöpft. Beispiele können uns am ehesten die axiomatische Methode erläutern. Das älteste und bekannteste Beispiel der axiomatischen Methode ist Euklids Geometrie. Ich möchte aber lieber ganz kurz die axiomatische Methode an einem sehr drastischen Beispiele aus der modernen Biologie verdeutlichen.
Drosophila ist eine kleine Fliege, aber groß ist unser Interesse für sie; sie ist der Gegenstand der ausgedehntesten, der sorgfältigsten und erfolgreichsten Züchtungsversuche gewesen. Diese Fliege ist gewöhnlich grau, rotäugig, fleckenlos, rundflügelig, langflügelig. Es kommen aber auch Fliegen mit abweichenden Sondermerkmalen vor: statt grau sind sie gelb, statt rotäugig sind sie weißäugig usw. Gewöhnlich sind diese fünf Sondermerkmale gekoppelt, d. h. wenn eine Fliege gelb ist, dann ist sie auch weißäugig und fleckig, spaltflügelig und klumpflügelig. Und wenn sie klumpflügelig ist, dann ist sie auch gelb und weißäugig usw. Von dieser gewöhnlich statthabenden Koppelung kommen nun aber bei geeigneten Kreuzungen unter den Nachkommen an Zahl geringere Abweichungen vor, und zwar prozentuell in bestimmter konstanter Weise. Auf die Zahlen, die man dadurch experimentell findet, stimmen die linearen Euklidischen Axiome der Kongruenz und die Axiome über den geometrischen Begriff „zwischen“, und so kommen als Anwendung der linearen Kongruenzaxiome, d. h. der elementaren geometrischen Sätze über das Abtragen von Strecken, die Gesetze der Vererbung heraus; so einfach und genau – und zugleich so wunderbar, wie wohl keine noch so kühne Phantasie sie sich ersonnen hätte.
Ein weiteres Beispiel der axiomatischen Methode auf ganz anderem Gebiet ist folgendes:
In unseren theoretischen Wissenschaften sind wir an die Anwendung formaler Denkprozesse und abstrakter Methoden gewöhnt. Die axiomatische Methode gehört der Logik an. Bei dem Worte Logik denkt man in weiten Kreisen an eine sehr langweilige und schwierige Sache. Heute ist die logische Wissenschaft leicht verständlich und sehr interessant geworden. Z. B. hat man eingesehen, daß schon im täglichen Leben Methoden und Begriffsbildungen gebraucht werden, die ein hohes Maß von Abstraktion erfordern und nur durch unbewußte Anwendung der axiomatischen Methoden verständlich sind. Z. B. der allgemeine Prozeß der Negation und insbesondere der Begriff „Unendlich“. Was den Begriff „Unendlich“ betrifft, so müssen wir uns klarmachen, daß „Unendlich“ keine anschauliche Bedeutung und ohne nähere Untersuchung überhaupt keinen Sinn hat. Denn es gibt überall nur endliche Dinge. Es gibt keine unendliche Geschwindigkeit und keine unendlich rasch sich fortpflanzende Kraft oder Wirkung. Zudem ist die Wirkung selbst diskreter Natur und existiert nur quantenhaft. Es gibt überhaupt nichts Kontinuierliches, was unendlich oft geteilt werden könnte. Sogar das Licht hat atomistische Struktur, ebenso wie die Wirkungsgröße. Selbst der Weltraum ist, wie ich sicher glaube, nur von endlicher Ausdehnung, und einst werden uns die Astronomen sagen können, wieviel Kilometer der Weltenraum lang, hoch und breit ist. Wenn auch in der Wirklichkeit Fälle von sehr großen Zahlen oft vorkommen, z. B. die Entfernungen der Sterne in Kilometern oder die Anzahl der wesentlich verschiedenen möglichen Schachspiele, so ist doch die Endlosigkeit oder die Unendlichkeit, weil sie eben die Negation eines überall herrschenden Zustandes ist, eine ungeheuerliche Abstraktion – ausführbar nur durch die bewußte oder unbewußte Anwendung der axiomatischen Methode. Diese Auffassung vom Unendlichen, die ich durch eingehende Untersuchungen begründet habe, löst eine Reihe von prinzipiellen Fragen, insbesondere werden dadurch die Kantschen Antinomien über den Raum und über die unbegrenzten Teilungsmöglichkeiten gegenstandslos und also die dabei auftretenden Schwierigkeiten gelöst.
Wenn wir uns nun unserem Problem selber, wie Natur und Denken zusammenhängen, zuwenden, so wollen wir hier drei Hauptgesichtspunkte zur Sprache bringen. Der erste knüpft an das soeben besprochene Problem der Unendlichkeit an. Wir sahen: das Unendliche ist nirgends realisiert; es ist weder in der Natur vorhanden noch als Grundlage in unserem Denken ohne besondere Vorkehrungen zulässig. Hierin schon erblicke ich einen wichtigen Parallelismus von Natur und Denken, eine grundlegende übereinstimmung zwischen Erfahrung und Theorie.
Noch einen anderen Parallelismus nehmen wir wahr: unser Denken geht auf Einheit aus und sucht Einheit zu bilden; wir beobachten die Einheit des Stoffes in der Materie, und wir konstatieren überall die Einheit der Naturgesetze. Dabei kommt uns die Natur in Wirklichkeit bei unserer Forschung sehr entgegen, als wäre sie bereit, ihre Geheimnisse gern zu enthüllen. Die dünne Verteilung der Masse im Himmelsraum ermöglichte die Entdeckung und genauere Bestätigung des Newtonschen Gesetzes. Michelson konnte trotz der großen Lichtgeschwindigkeit noch die Ungültigkeit des Additionsgesetzes der Geschwindigkeiten mit Sicherheit feststellen, weil unsere Erde noch gerade rasch genug dazu ihren Rundlauf um die Sonne macht. Der Merkur tut uns gerade den Gefallen, die Perihelbewegung auszuführen, so daß wir die Einsteinsche Theorie daran prüfen können. Und der Fixsternstrahl läuft gerade noch so an der Sonne vorüber, daß seine Ablenkung beobachtet wird.
Aber noch auffallender ist eine Erscheinung, die wir in anderem Sinne als Leibniz die prästabilierte Harmonie nennen, die geradezu eine Verkörperung und Realisation mathematischer Gedanken ist. Die älteren Beispiele dafür sind die Kegelschnitte, die man studierte, lange bevor man ahnte, daß unsere Planeten oder gar die Elektronen sich in solchen Bahnen bewegten. Aber das großartigste und wunderbarste Beispiel für die prästabilierte Harmonie ist die berühmte Einsteinsche Relativitätstheorie. Hier werden allein durch die allgemeine Forderung der Invarianz in Verbindung mit dem Prinzip der größten Einfachheit die Differentialgleichungen für die Gravitationspotentiale mathematisch eindeutig aufgestellt; und diese Aufstellung wäre unmöglich gewesen ohne die tiefgehenden und schwierigen mathematischen Untersuchungen von Riemann, die lange vorher da waren. In neuester Zeit häufen sich die Fälle, daß gerade die wichtigsten im Mittelpunkt des Interesses der Mathematik stehenden mathematischen Theorien zugleich die in der Physik benötigten sind. Ich hatte die Theorie der unendlich vielen Variablen aus rein mathematischem Interesse entwickelt und dabei sogar die Bezeichnungen Spektralanalyse angewandt, ohne ahnen zu können, daß diese einmal später in dem wirklichen Spektrum der Physik realisiert werden würden.
Wir können diese Übereinstimmung zwischen Natur und Denken, zwischen Experiment und Theorie nur verstehen, wenn wir das formale Element und den damit zusammenhängenden Mechanismus auf beiden Seiten der Natur und unseres Verstandes berücksichtigen. Der mathematische Prozeß der Elimination liefert, wie es scheint, die Ruhepunkte und Stationen, auf denen ebenso die Körper in der realen Welt wie die Gedanken in der Geisteswelt verweilen und sich dadurch der Kontrolle und der Vergleichung darbieten.
Indes auch diese prästabilierte Harmonie erschöpft noch nicht die Beziehungen zwischen Natur und Denken und enthüllt noch nicht die tiefsten Geheimnisse unseres Problems. Um zu diesem zu kommen, fassen wir einmal den gesamten physikalisch-astronomischen Wissenskomplex ins Auge. Wir bemerken dann in der heutigen Wissenschaft einen Gesichtspunkt, der weit über die älteren Fragestellungen und Ziele unserer Wissenschaft hinausgeht: es ist der Umstand, daß die heutige Wissenschaft nicht bloß im Sinne der klassischen Mechanik aus Daten der Gegenwart die künftigen Bewegungen und zu erwartenden Erscheinungen vorauszubestimmen lehrt, sondern sie zeigt auch, daß gerade die gegenwärtigen tatsächlichen Zustände der Materie auf der Erde und im Weltall nicht zufällig oder willkürlich sind, sondern aus den physikalischen Gesetzen folgen.
Die wichtigsten Belege dafür sind die Bohrschen Atommodelle, der Aufbau der Sternenwelt und schließlich die ganze Entwicklungsgeschichte des organischen Lebens. Die Verfolgung dieser Methoden müßte, so erscheint es, dann wirklich zu einem System von Naturgesetzen führen, das auf die Wirklichkeit in ihrer Gesamtheit paßt, und dann bedürfte es tatsächlich nur des Denkens, d. h. der begrifflichen Deduktion, um alles physikalische Wissen zu gewinnen; alsdann hätte Hegel recht mit der Behauptung, alles Naturgeschehen aus Begriffen deduzieren zu können. Aber diese Folgerung ist unzutreffend. Denn wie ist es mit der Herkunft der Weltgesetze? Wie gewinnen wir solche? Und wer lehrt uns, daß sie auf die Wirklichkeit passen? Die Antwort lautet, daß uns dies ausschließlich die Erfahrung ermöglicht. Im Gegensatz zu Hegel erkennen wir, daß die Weltgesetze auf keine andere Weise zu gewinnen sind als aus der Erfahrung. Mögen bei der Konstruktion des Fachwerkes der physikalischen Begriffe mannigfache spekulative Gesichtspunkte mitwirken: Ob die aufgestellten Gesetze und das aus ihnen aufgebaute logische Fachwerk von Begriffen stimmt, das zu entscheiden ist allein die Erfahrung imstande. Bisweilen hatte eine Idee ihren ersten Ursprung im reinen Denken, wie z. B. die Idee der Atomistik bei Demokrit, während die Existenz der Atome erst zwei Jahrtausende später durch die Experimentalphysik bewiesen worden ist. Bisweilen geht die Erfahrung voran und zwingt dem Geiste den spekulativen Gesichtspunkt auf. So danken wir es dem kräftigen Anstoß des Michelsonschen Experimentes, daß das festgewurzelte Vorurteil der absoluten Zeit aus dem Wege geräumt und schließlich der Gedanke der allgemeinen Relativität von Einstein gefaßt werden konnte.
Wer trotzdem leugnen will, daß die Weltgesetze aus der Erfahrung stammen, muß behaupten, daß es außer der Deduktion und außer der Erfahrung noch eine dritte Erkenntnisquelle gibt.
Es haben in der Tat Philosophen – und Kant ist der klassische Vertreter dieses Standpunktes – behauptet, daß wir außer der Logik und der Erfahrung noch a priori gewisse Erkenntnisse über die Wirklichkeit haben. Nun gebe ich zu, daß schon zum Aufbau der theoretischen Fachwerke gewisse apriorische Einsichten nötig sind und daß stets dem Zustandekommen unserer Erkenntnisse solche zugrunde liegen. Ich glaube, daß auch die mathematische Erkenntnis letzten Endes auf einer Art solcher anschaulicher Einsicht beruht. Und daß wir sogar zum Aufbau der Zahlentheorie eine gewisse anschauliche Einstellung a priori nötig haben. Damit behält also der allgemeinste Grundgedanke der Kantschen Erkenntnistheorie seine Bedeutung: nämlich das philosophische Problem, jene anschauliche Einstellung a priori festzustellen und damit die Bedingung der Möglichkeit jeder begrifflichen Erkenntnis und zugleich jeder Erfahrung zu untersuchen. Ich meine, daß dies im wesentlichen in meinen Untersuchungen über die Prinzipien der Mathematik geschehen ist. Das Apriori ist dabei nichts mehr und nichts weniger als eine Grundeinstellung oder der Ausdruck für gewisse unerläßliche Vorbedingungen des Denkens und Erfahrens. Aber die Grenze einerseits zwischen dem, was wir a priori besitzen, und andererseits dem, wozu Erfahrung nötig ist, müssen wir anders ziehen als Kant; Kant hat die Rolle und den Umfang des Apriorischen weit überschätzt.
Zur Zeit Kants konnte man denken, daß die Raum- und Zeitvorstellungen, die man hatte, ebenso allgemein und unmittelbar auf die Wirklichkeit anwendbar sind wie z. B. unsere Vorstellungen von Anzahl, Reihenfolge und Größe, die wir in den mathematischen und physikalischen Theorien beständig in der uns geläufigen Weise verwenden. Dann würde in der Tat die Lehre von Raum und Zeit, insbesondere also die Geometrie etwas sein, das ebenso wie die Arithmetik aller Naturerkenntnis vorausgeht. Aber dieser Standpunkt Kants wurde bereits, ehe die Entwicklung der Physik dazu zwang, insbesondere von Riemann und Helmholtz verlassen – mit vollem Recht; denn Geometrie ist nichts anderes als derjenige Teil des gesamten physikalischen Begriffsfachwerkes, der die möglichen Lagenbeziehungen der starren Körper gegeneinander in der Welt der wirklichen Dinge abbildet. Daß es beweglich starre Körper überhaupt gibt und welches die Lagebeziehungen sind, ist lediglich Erfahrungssache. Der Satz, daß die Winkelsumme im Dreieck zwei Rechte beträgt und das Parallelenaxiom gilt, ist eben, wie schon Gauss erkannte, lediglich durch das Experiment festzustellen oder zu widerlegen. Würden sich z. B. die sämtlichen durch die Kongruenzsätze ausgedrückten Tatsachen in Übereinstimmung mit der Erfahrung erweisen, fiele dagegen die Winkelsumme in einem aus starren Stäben konstruierten Dreiecke kleiner als zwei Rechte aus, so würde niemand darauf verfallen, daß das Parallelenaxiom in dem Raume der wirklichen Körper gültig sei.
Bei der Aufnahme in den apriorischen Bestand ist die äußerste Vorsicht am Platze; sind doch viele der früher als apriorisch geltenden Erkenntnisse heute sogar als unzutreffend erkannt worden. Das schlagendste Beispiel dafür ist die Vorstellung von der absoluten Gegenwart. Eine absolute Gegenwart gibt es nicht, so sehr wir auch von Kindheit an daran gewöhnt sind, sie anzunehmen, da es sich eben im täglichen Leben nur um kurze Entfernungen und langsame Bewegungen handelt. Wäre dies anders, so würde niemand darauf gekommen sein, die absolute Zeit einzuführen. So aber sind sogar so tiefe Denker wie Newton und Kant gar nicht einmal darauf gekommen, an der Absolutheit der Zeit zu zweifeln. Der vorsichtige Newton formulierte diese Forderung sogar so kraß wie möglich: die absolute wahre Zeit fließt an sich und vermöge ihrer Natur gleichförmig und ohne Beziehung auf irgend einen Gegenstand. Newton hat damit ehrlich jeden Rückzug oder Kompromiß abgeschnitten, und Kant, der kritische Philosoph, erwies sich hier so gar nicht kritisch, indem er ohne weiteres Newton akzeptierte. Erst Einstein befreite uns definitiv von diesem Vorurteil – das wird immer eine der gewaltigsten Taten des menschlichen Geistes bleiben –, und die allzu weitgehende Apriori-Theorie konnte schlagender als durch diesen Fortgang der physikalischen Wissenschaft nicht ad absurdum geführt werden. Die Annahme der absoluten Zeit hat nämlich u. a. den Satz von der Addition der Geschwindigkeiten bei Zusammensetzung zweier Geschwindigkeiten zur Folge – übrigens an sich ein Satz, der scheinbar an Evidenz und populärer Verständlichkeit kaum überboten werden konnte –, und doch ergab sich aus den verschiedenartigsten Experimenten auf den Gebieten der Optik, der Astronomie und der Elektrizitätslehre in zwingender Weise, daß dieser Satz von der Addition der Geschwindigkeiten nicht richtig ist; es gilt tatsächlich ein anderes komplizierteres Gesetz für die Zusammensetzung zweier Geschwindigkeiten. Wir können sagen: in der neueren Zeit ist die von Gauss und Helmholtz vertretene Anschauung über die empirische Natur der Geometrie zu einem sicheren Ergebnis der Wissenschaft geworden. Sie muß heute für alle philosophischen Spekulationen, die Raum und Zeit betreffen, als fester Anhaltspunkt dienen. Denn die Einsteinsche Gravitationstheorie macht es offenkundig: die Geometrie ist nichts als ein Zweig der Physik; die geometrischen Wahrheiten sind in keiner einzigen Hinsicht prinzipiell anders gestellt oder anders geartet als die physikalischen. So sind z. B. der pythagoreische Lehrsatz und das Newtonsche Anziehungsgesetz miteinander wesensverwandt, insofern sie von demselben physikalischen Grundbegriff, dem des Potentials, beherrscht werden. Aber noch mehr ist für jeden Kenner der Einsteinschen Gravitationstheorie sicher: diese beiden Gesetze, so verschiedenartig und bisher scheinbar durch Fernen getrennt, das eine ein schon im Altertum bekannter, seitdem auf der Schule überall gelehrter Satz der elementaren Geometrie, das andere ein Gesetz über die Wirkung der Massen aufeinander, sind nicht bloß von demselben Charakter, sondern nur Teile ein und desselben allgemeinen Gesetzes.
Es konnte kaum drastischer die prinzipielle Gleichartigkeit der geometrischen und der physikalischen Tatsachen zutage treten. Freilich beim üblichen logischen Aufbau und bei unseren gewöhnlichen täglichen und von Kinderzeiten her geläufigen Erfahrungen gehen die geometrischen und kinematischen Sätze den dynamischen voraus, und dieser Umstand erklärt es, wenn man vergaß, daß es überhaupt Erfahrungen sind. Wir sehen also: In der Kantschen Apriori-Theorie sind noch anthropomorphe Schlacken enthalten, von denen sie befreit werden muß und nach deren Entfernung nur diejenige apriorische Einstellung übrigbleibt, die auch der rein mathematischen Erkenntnis zugrunde liegt: es ist im wesentlichen die von mir in verschiedenen Abhandlungen1 charakterisierte finite Einstellung.
Das Instrument, welches die Vermittlung bewirkt zwischen Theorie und Praxis, zwischen Denken und Beobachten, ist die Mathematik; sie baut die verbindende Brücke und gestaltet sie immer tragfähiger. Daher kommt es, daß unsere ganze gegenwärtige Kultur, soweit sie auf der geistigen Durchdringung und Dienstbarmachung der Natur beruht, ihre Grundlage in der Mathematik findet. Schon Galilei sagt: Die Natur kann nur der verstehen, der ihre Sprache und die Zeichen kennengelernt hat, in der sie zu uns redet; diese Sprache aber ist die Mathematik, und ihre Zeichen sind die mathematischen Figuren. Kant tat den Ausspruch: „Ich behaupte, daß in jeder besonderen Naturwissenschaft nur so viel eigentliche Wissenschaft angetroffen werden kann, als darin Mathematik enthalten ist.“ In der Tat: Wir beherrschen nicht eher eine naturwissenschaftliche Theorie, als bis wir ihren mathematischen Kern herausgeschält und völlig enthüllt haben. Ohne Mathematik ist die heutige Astronomie und Physik unmöglich; diese Wissenschaften lösen sich in ihren theoretischen Teilen geradezu in Mathematik auf. Diese und die zahlreichen weiteren Anwendungen sind es, denen die Mathematik ihr Ansehen verdankt, soweit sie solches im weiteren Publikum genießt.
Trotzdem haben es die Mathematiker abgelehnt, die Anwendungen als Wertmesser für die Mathematik gelten zu lassen. Der Fürst der Mathematiker, Gauss, der gewiß zugleich ein angewandter Mathematiker par excellence war, der ganze Wissenschaften, wie Fehlertheorie, Geodäsie neu schuf, um darin die Mathematik die Führerrolle spielen zu lassen, der, als die Astronomen den neu entdeckten Planeten Ceres – einen besonders wichtigen und interessanten Planeten – verloren hatten und nicht wiederfinden konnten, eine neue mathematische Theorie ersann, auf Grund deren er den Standort der Ceres richtig voraussagte, der den Telegraphen und vieles andere Praktische erfand, war doch derselben Meinung. Die reine Zahlentheorie ist dasjenige Gebiet der Mathematik, das bisher noch nie Anwendung gefunden hat. Aber gerade die Zahlentheorie ist es, die von Gauss die Königin der Mathematik genannt und von ihm und fast allen großen Mathematikern verherrlicht wird. Gauss spricht von dem zauberischen Reiz, der die Zahlentheorie zur Lieblingswissenschaft der ersten Mathematiker gemacht habe, ihres unerschöpflichen Reichtums nicht zu gedenken, woran sie alle anderen Teile der Mathematik so weit übertrifft. Gauss schildert, wie ihn schon in früher Jugend die Reize der zahlentheoretischen Untersuchungen so umstrickten, daß er sie nicht mehr lassen konnte. Er preist Fermat, Euler, Lagrange und Legendre als Männer von unvergleichlichem Ruhme, weil sie den Zugang zu dem Heiligtum dieser göttlichen Wissenschaft erschlossen und gezeigt haben, von wie großen Reichtümern es erfüllt ist. Und ganz ähnlich begeistert sprechen sich die Mathematiker vor Gauss und die nach Gauss, wie Lejeune Dirichlet, Kummer, Hermite, Kronecker und Minkowski aus – Kronecker vergleicht die Zahlentheoretiker den Lotophagen, die, wenn sie einmal von dieser Kost etwas zu sich genommen haben, nie mehr davon lassen können.
Auch Poincaré, der glänzendste Mathematiker seiner Generation, der wesentlich zugleich Physiker und Astronom war, ist derselben Ansicht. Poincaré wendet sich einmal mit auffallender Schärfe gegen Tolstoi, der erklärt hatte, daß die Forderung „die Wissenschaft der Wissenschaft wegen“ töricht sei. „Sollen wir uns“, so hatte Tolstoi gesagt, „bei der Wahl unserer Beschäftigung durch die Laune unserer Wißbegierde leiten lassen? Wäre es nicht besser, nach der Nützlichkeit die Entscheidung zu treffen, d. h. nach unseren praktischen und moralischen Bedürfnissen?“ Eigenartig, daß es gerade Tolstoi ist, den wir Mathematiker da als einen platten Realisten und engherzigen Utilitarier ablehnen müssen. Poincaré führt gegen Tolstoi aus, daß, wenn man nach dem Rezept Tolstois verfahren hätte, eine Wissenschaft überhaupt niemals entstanden wäre. Man braucht nur die Augen zu öffnen, so schließt Poincaré, um zu sehen, wie z. B. die Errungenschaften der Industrie nie das Licht der Welt erblickt hätten, wenn diese Praktiker allein existiert hätten und wenn diese Errungenschaften nicht von uninteressierten Toren gefördert worden wären, die nie an die praktische Ausnützung gedacht haben. Der gleichen Meinung sind wir alle.
Auch unser großer Königsberger Mathematiker Jacobi dachte so, Jacobi, dessen Name neben Gauss steht und noch heute von jedem Studierenden unserer Fächer mit Ehrfurcht genannt wird. Als der berühmte Fourier einmal gesagt hatte, der Hauptzweck der Mathematik liege in der Erklärung der Naturerscheinungen, ist es Jacobi, der ihn mit der ganzen Leidenschaftlichkeit seines Temperaments abkanzelt. Ein Philosoph, wie Fourier es doch sei, hätte wissen sollen, so ruft Jacobi, daß die Ehre des menschlichen Geistes der einzige Zweck aller Wissenschaft ist und daß unter diesem Gesichtspunkt ein Problem der reinen Zahlentheorie ebensoviel wert ist als eines, das den Anwendungen dient.
Wer die Wahrheit der großzügigen Denkweise und Weltanschauung, die aus diesen Worten Jacobis hervorleuchtet, empfindet, der verfällt nicht rückschrittlicher und unfruchtbarer Zweifelsucht; der wird nicht denen glauben, die heute mit philosophischer Miene und überlegenem Tone den Kulturuntergang prophezeien und sich in dem Ignorabimus gefallen. Für den Mathematiker gibt es kein Ignorabimus, und meiner Meinung nach auch für die Naturwissenschaft überhaupt nicht. Einst sagte der Philosoph Comte – in der Absicht, ein gewiß unlösbares Problem zu nennen –, daß es der Wissenschaft nie gelingen würde, das Geheimnis der chemischen Zusammensetzung der Himmelskörper zu ergründen. Wenige Jahre später wurde durch die Spektralanalyse von Kirchhoff und Bunsen dieses Problem gelöst, und heute können wir sagen, daß wir die entferntesten Sterne als wichtigste physikalische und chemische Laboratorien in Anspruch nehmen, wie wir solche auf der Erde gar nicht finden. Der wahre Grund, warum es Comte nicht gelang, ein unlösbares Problem zu finden, besteht meiner Meinung nach darin, daß es ein unlösbares Problem überhaupt nicht gibt. Statt des törichten Ignorabimus heiße im Gegenteil unsere Losung:
Wir müssen wissen,
Wir werden wissen.
1 Vgl. über das Unendliche. Math. Ann. Bd. 95, (1926) S. 161. Die Grundlagen der Mathematik. Abh. a. d. math. Sem. d. Hamburgischen Universität Bd. 6, (1928) S. 65. Abgedruckt als Anhang VIII bzw. IX der „Grundlagen der Geometrie“, 7. Aufl. 1930.